Today, I cleaned out my wardrobe

03.06.2020

Wohin mit der Kunst im Zeitalter der Krise?

Von Aileen Treusch (Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin & Soziologin)

„Nachts im Museum“ bleibt in diesem Jahr ein TV-Blockbuster, denn das gleichnamige bewährte Programm aus dem Kulturmarketing von Städten und Institutionen muss angesichts der unsichtbaren Bedrohung ausfallen. Was also tun in dieser Übergangszeit, in der wir nicht nur unsere Haltung, sondern auch unser Handeln hinterfragen müssen? Was brauchen wir zum Leben, was ist überflüssig? Insbesondere die oftmals vermeintlich mit dem Laster des Luxus behaftete Kunst- und Kulturproduktion hat es schwer, sich einen digitalanalogen Weg durch die Krise zu bahnen.

Einige von uns haben diesen Moment genutzt, um aufzuräumen, alte Gewohnheiten hinter sich zu lassen und neue zu etablieren. Die digitale Plattform, zugleich Intervention im öffentlichen Raum „I cleaned out my wardrobe“ ist ein Appell an uns alle zu mehr Achtsamkeit und Toleranz gegenüber einem der „kostbarsten, dennoch oft vernachlässigten Menschenrechte: die Freiheit, uns selbst und unsere Städte immer wieder neu zu erschaffen“, wie es der Humangeograph und Sozialtheoretiker David Harvey beschrieben hat. Die Krise hat Kunst- und Kulturschaffende ein Stück von Ihrem Zwang befreit, im Dienst der Institution zu stehen und zu handeln. In unsicheren Zeiten mit offenem Ausgang tun wir gut daran, künstlerische Praxis als „ungerichtete Forschung“ zu betrachten, die Gedankenspiele und Experimente produziert. Dabei sollten wir auch die Erwartungshaltung aufgeben, dass die Kunst auf Probleme hinweist und sie gleichzeitig lösen kann.

Wie alles begann.

 

In der Werkserie „Clothies“ gestaltet Toni Meyer Kleiderskulpturen an Menschen: „Sie wirken wie ein Störfaktor und erscheinen dennoch vertraut – wie ein alter Bekannter – vielleicht kennen wir sie vom Blick in den Kleiderschrank“ erzählt die Künstlerin. Tatsächlich schaffen die „Real-Life-Sculptures“ beim Betrachten ein Bewusstsein für die Überflussgesellschaft und evozieren gleichermaßen einen Denkanstoß für das eigene Handlungsprinzip und Konsumverhalten. Sie konfrontieren den Betrachter mit einem ungewöhnlichen Anblick, der doch klar zu fassen ist: Ein Mensch hat sich zu viel angezogen. Anlässlich der Nacht der Museen in Frankfurt am Main, bei der sich das ganze Flussufer zu einem Strom von Eindrücken verwandelt und zahlreiche Besucher angelockt werden, planten wir einen Auftritt der Clothies in Kooperation mit weiteren Institutionen und Frankfurter Akteuren. Die Ausstellung „Making Crises Visible“ am Senckenberg Museum diente hierbei als Keimzelle und Vermittlungszentrale dieser künstlerisch inszenierten „Klamotten-Krise“, denn Ausstellungen und Kulturveranstaltungen sind „soziale Treffpunkte, Lernorte und Fabriken des kulturellen Erbes“, wie es der ehemalige Frankfurter Museumsdirektor Max Hollein stets betont. Sie sind Orte, die Anlass für Diskussionen und Wissensaustausch bieten. Neben zahlreichen Perspektiven auf die „Krisen des Planeten“ schafft die Kunst von Toni Meyer ein Vehikel, das eine Einheit von Ästhetik und Ethik zu veranschaulichen vermag und gleichermaßen zur Debatte stellt. Der Verortung von Mode und Konsum als Abbild gesellschaftlicher Zustände und der Inszenierung von „Fast Fashion“ sowie „Trends“ kommt dabei eine besondere Aufmerksamkeit zu. Auch in Frankfurt weiß man um die Ausdruckskraft der Mode, die nicht nur das Bestreben und die Prioritäten einer Kultur reflektiert, sondern gleichzeitig Ausdruck von Errungenschaften aber auch Missständen ist. Die Überflusswesen von Toni Meyer zeigen eine ungewöhnliche Symbiose von Kunst und Mode. Sie offenbaren die gegenwärtige Sehnsucht nach einem minimalistischen und zugleich einfacheren Leben, die unter anderem in einer Ohnmacht gegenüber den „Dingen“ aber auch den zu treffenden „Entscheidungen“ begründet liegt. Das „zu viel haben“ und „zu viel haben wollen“ ist zu einem Luxusproblem in einer von Massenproduktion und -konsum geprägten, globalisierten Welt geworden.

Die Modeindustrie belastet die Umwelt enorm und die großen Akteure versuchen durch Nachhaltigkeitsbemühungen Zeichen zu setzen. Dem entgegen steht der zu beobachtende Konsumrausch, der durch Kult-Events wie den „Black Friday“ und den Hype um Marken immer wieder entfacht wird. Durch die künstliche Verknappung wird die Begierde der weltweiten Käufer zusätzlich befeuert; dabei wirken die drei Säulen der Fashion-Industrie (Produktion, Handel und Kritik) erfolgreich zusammen. So hat beispielsweise der Turnschuh in den vergangenen Jahren einen beeindruckenden gesellschaftlichen gleichwohl wirtschaftlichen Aufstieg hingelegt: Der Markt hat sich in den letzten Jahren vervielfacht. Nike allein verzeichnete 2019 einen Umsatz von 22 Mrd. Euro – nur durch den Verkauf von Sportschuhen. Für April 2020 plante Adidas die Verlagerung der vielversprechenden Produktionsstätte von Schuhsohlen in Deutschland zurück nach Asien. Die Distanz zu den stärksten Absatzmärkten belastet nicht nur die Umwelt, sondern befördert ebenso zweifelhafte Produktionsverhältnisse. Die Kleiderskulpturen „North, Blue und Vains“ von Toni Meyer kümmert das wenig. Sie manifestieren durch das übermäßige Tragen von Jeans, Daunenjacken und Sportmarken einen Moment des Überflusses und zeigen dabei eine gewisse Stilkonsistenz und Gleichförmigkeit der Ware auf.

 

Bereits vor ihrem Streifzug durch die Stadt werden die Überflusswesen der Künstlerin von einem plötzlich spür- und sichtbaren Phänomen getroffen und drohen vollständig im Ereignishorizont einer neu aufflammenden Krise zu verschwinden. Die Corona-Krise verändert die Welt, scheint alle Parallelkrisen in sich aufzunehmen oder verbannt sie in die zweite Reihe auf dem Krisenradar. Zunächst verschwinden die unmittelbaren Wirkungsflächen des geplanten Projektes sowie der damit verbundene kulturelle und temporäre Rahmen. Es stellt sich die Frage, wie und ob die geplante Intervention eine angemessene Analogie in der digitalen Welt finden kann. Wenn Institutionen geschlossen sind und der urbane Raum nicht mehr vordergründig der Versammlung von Menschen dient und zum Entdecken und Verweilen aufrufen kann, verschwinden dann auch die soziokulturellen Handlungen und Interaktionen von Künstlern und Kreativen im Äther der Krisenauswirkung?

 

Im schmerzlichen Bewusstsein darüber, dass die bloße Digitalisierung der aufwändig produzierten Skulpturen mit einem gravierenden Verlust des Erfahrungswertes einhergehen würde, befreiten wir die Kreaturen von der Last, durch ihren Auftritt zu einer Eventisierung und Kommerzialisierung von Stadt – wenngleich ungewollt –beizutragen. Es ist nichts falsch daran, Kunst und Kommerz stellenweise miteinander zu verbinden, um Ausdrucksflächen für Künstler und Kreative zu schaffen. Es braucht jedoch Strukturen, die das subtile Experiment ermöglichen und der Kunst ihre Freiheit lassen, um ihrer selbst Willen zu existieren, ohne dabei das Publikum und die Reichweite im Blick zu haben.

 

Auf ihren darauffolgenden Streifzügen durch die Münchner Einkaufsstraßen und Erholungsräume, nutzen die „Clothies“ den urbanen Raum als Laufsteg und öffentliche Bühne und schaffen einen erweiterten Diskussions- und Erfahrungsraum. Sie warten an Ampeln, gehen alltäglichen Erledigungen nach und tauchen in das Stadtgemenge ein. Sie werden beobachtet und übersehen, Interaktionen mit Passanten erfolgen spontan und freiwillig. Ihre Botschaft übermittelt sich subtil und der unerwarteten Begegnung mit ihnen steht die ursprüngliche Inszenierung vor einem Massenpublikum entgegen.

 

Kunst und Kultur im öffentlichen Raum erfordern die Bereitschaft sich mit Ungewohntem auseinanderzusetzen oder dieses zumindest zu respektieren. In den weltweit zahlreichen Vandalismus-Fällen drückt sich die Ignoranz gegenüber dem Fremdartigen, der Drang zum Urteilen und der Anspruch auf Gestaltungshoheit aus. Das überrascht immer wieder, denn die Idee von einer Kunst, die jedem gleichermaßen recht ist und gefallen muss entstammt vermeintlich längst vergangenen Zeiten. Die absurden Stadtrundgänge der Kleiderhaufen stehen für einen Moment der Freiheit in einem zunehmend kontrollierten und strukturierten urbanen Raum.

 

Über die digitale Plattform „I cleaned out my wardrobe“ werden die flüchtigen Begegnungen und Streifzüge der „Clothies“ gesammelt. Manchmal heimlich, manchmal proaktiv, dokumentiert und inszeniert die Künstlerin eine Produktions- und Konsumeuphorie. Neben Video- und Fotoaufnahmen gibt sie durch Textbeiträge Auskunft über eine imaginierte Persönlichkeit der einzelnen Charaktere. Ähnlich der Angaben in naturhistorischen Schaumuseen verweist sie auf „Habits & Habitats“. Die damit verbundenen ökologischen und humanitären Kosten der (billigen) Produktion werden ebenfalls zu einem lesbaren Thema und verschiedene Eindrücke einer vom Konsum geprägten Gesellschaft verschmelzen zu einer digitalen Collage. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf allgegenwärtige Alltagsgegenstände. Während eine vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Kunstobjekt und soziokulturellem Umfeld zunehmend diffus wird, zeigt sich deutlich eine unaufhörliche Interaktion. Die erfassten Materialien und Oberflächenphänomene der Objekte stimulieren beim Betrachter unterschiedliche Emotionen und Assoziationen, sie ermöglichen Ablehnung und Identifizierung: Schutz- und Funktionsprodukte erscheinen unnötig und überflüssig, bunte und grelle Kompositionen kontrastieren mit diskreten und unauffälligen Strukturen. Die Aufnahmen zeigen darüber die Vielschichtigkeit des öffentlichen Raums als soziale und politische Begegnungsfläche, als Ort kultureller Erinnerung und Experimentierfeld neuer kultureller Selbstbestätigung, Erholungs- und Naturraum sowie Verkehrs- und Mobilitätsraum auf.

 

Insbesondere das Medium der Fotografie wird oft als Verdichtung und Verschärfung der Realität wahrgenommen, denn sie liefert tatsächlich kleine Fragmente dieser unvollkommenen Welt. In ihren Arbeiten nutzt Toni Meyer vorrangig den fotografischen Apparat und überlagert akkurat eingefangene Wirklichkeiten, die erst auf den zweiten Blick voneinander zu trennen sind. Dabei konfrontiert sie den Betrachter mit dem eigenen, teils schnelllebigen Bildkonsumverhalten und stellt ihn auf die Probe. Ausgangspunkt Ihrer Fotografie ist meist der Mensch und seine gebaute sowie natürliche Umwelt. In ihrer 2017 begonnenen „City Serie“ portraitiert sie Großstädte wie São Paulo, Tokio, London oder Athen mithilfe von fotografischen Collagen. Die zunehmend prozessuale Arbeitsweise schließt neben der Fotografie nun auch den Film mit ein. In der neuen Werkserie werden erstmals Fotografie, Video und Performance überlagert.

Trotz seiner „Weltoffenheit“ erscheint der Mensch hier in Anlehnung an Arnold Gehlen als „Mängelwesen“. Ohne allzu mahnende Geste erfolgt der Verweis auf die Allmendeklemme und die zugrundeliegende Konsumethik und Konsumästhetik. Es wird deutlich, in welchem Dilemma wir heute stecken: Unser Verhalten hinterlässt auf dem Planeten einen wahrnehmbaren Fußabdruck, der sich in unserer natürlichen Umgebung durch Reduktion der Artenvielfalt und Biodiversität sowie durch denimawandel bemerkbar macht. Dies wiederum führt zu einer in der nahen Zukunft liegenden Last, die insbesondere die junge Generation zu tragen haben wird. Ein Großteil der Modebranche setzt nach wie vor auf günstige und zweifelhafte Produktionsverhältnisse. Seit Anfang Mai ist das neue Shoppingkonzept „Afound“ der H&M-Gruppe auch in Deutschland online. Für die Betreiber stehter Nachhaltigkeitsgedanke im Fokus, denn hier wird nur Rest- oder Überschussware zu Schnäppchenpreisen angeboten. Der auffällig schlichte, fast schon abwesende Gestaltungsanspruch der Seite soll jedoch vor allem zum Kauf anregen, lokale und kleine Hersteller können bei dieser Preispolitik nicht mithalten.

 

„I cleaned out my wardrobe“ lädt dazu ein, über Gewohnheiten nachzudenken und inszeniert Denkanstöße für das eigene Handlungsprinzip. Was brauchen wir für das Leben, was ist überflüssig? Dabei sind Aufnahmen entstanden, die sich neben einer alltäglich sichtbaren Konsumkrise auch mit dem temporären „Verlust des öffentlichen Raumes“ auseinandersetzen. Während der Streifzüge durch die Stadt bleiben plötzlich Straßen und Platzanlagen leer. Das Daunenwesen „North“ steht nahezu alleine auf weiter Flur, nur wenige Passanten kreuzen seinen Weg. Die Corona-Pandemie entwickelt sich über den Zeitraum der Interventionen zu einer schweren, zugleich wichtigen und längst überfälligen „Krise des öffentlichen Raums“. Sie hat ein stärkeres Bewusstsein dafür geschaffen, dass der öffentliche Raum kein Restraum ist, sondern ein zentraler Bestandteil urbanen Zusammenlebens. Neben der „Leere“ schreibt sich ein bis dahin in dieser Form unbekanntes und neues Massenprodukt in die Bilderwelt von Toni Meyer ein. Die Gesichtsmaske prägt zunehmend das Bild des öffentlichen Lebens und so begegnet sie auch „Vains“ während sie vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft posiert. Das Phänomen der Selbstinszenierung und –darstellung mittels käuflicher Objekte lässt sich sehr prägnant an nur diesem einen Produkt ablesen. Das bereits in den 50er Jahren durch den Soziologen Erving Goffman beschriebene „impression management“ lässt sich durch die Kunst von Toni Meyer ebenso beobachten. Welche Farben und Gegenstände, welche Haare und Frisuren, welche Kleidung und Art zu gehen prägen das äußere Erscheinungsbild? „Menschen sind wie Skulpturen, die vom Leben geprägt sind, sich aber auch selbst formen und Gestalt annehmen“, bemerkt die Künstlerin.

 

Die entwickelte Plattform setzt der eindimensionalen Betrachtung von digitalem und analogem Raum und ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit etwas entgegen: das Anliegen, dass diese Räume viele Bedeutungen und Funktionen haben können und auch haben müssen. Sie bietet einen Rahmen für künstlerische Forschung und Praxis, eröffnet Diskussionen und ermöglicht Experimente, die eine Vernetzung von Kunst und soziokulturellem Umfeld untersuchen. Es ist ein kleiner Beitrag im Versuch den digitaleaum zu demokratisieren und dabei neue Architekturen des Digitalen zu schaffen. Die Bedeutsamkeit des physischen Raums bleibt davon unberührt, denn der neu entstehende digitale Raum versucht diesen nicht zu ersetzen. Ohnehin ist es ein weit verbreitetes Missverständnis, die zunehmende Digitalisierung der Welt mit der gesteigerten Nutzung digitaler Endgeräte gleichzusetzen und ihren Nutzen darüber zu definieren, analoge Strukturen und Informationen zu spiegeln. Vielmehr sollten wir uns bemühen, die „Logik des Digitalen“ zu analysieren, um diese noch besser verstehen und anwenden zu können. Wer sich nun an der übermäßigen Bilderflut im Netzt stört argumentiert letztendlich aus der Perspektive der Elite. Das jedoch ist unmoralisch, denn es vergönnt dem Gegenüber das Anliegen sich selbst darzustellen und bringt die Faulheit einer Szene zum Ausdruck, sich der Herausforderung und Arbeit zu stellen, neu entstehendes zu erforschen und zu akzeptieren. Welche Evolutionslinie wollen wir befördern? Welche Achtsamkeit gilt dabei der ungerichteten Kunst- und Kulturproduktion? Das Projekt bindet das kreative und kulturelle Kapital vieler Beteiligten – darunter die Künstlerin, die Initiatoren, die Performer, die Macher von „Making Crises Visible“, auch der Beobachter lässt sich dazu zählen – und verstreut dies wie Samen über Stadtlandschaften in der Hoffnung, eine ablesbare „Kultiviertheit“ unserer Gesellschaft zu bewahren.