Radikalisierung als Krise des gesellschaftlichen Zusammenhaltes

Obwohl wir alle nach individuellem Glück streben, orientieren wir uns in diesem Streben an anderen. Demokratische Öffentlichkeit lebt zwar von einer Pluralität der Meinungen, es herrscht jedoch ein Konsens über ihre Grundlage. Umso bedrohlicher werden die Ränder, das Extreme, wenn sie eben jene Grundlage einer Mitte infrage stellen, ihr die Existenz absprechen und extremistisch werden. Dabei fallen diese Extreme nicht vom Himmel, sondern bewegen sich aus unserer Mitte heraus in die Radikalität. Was treibt Menschen an den extremistischen Rand der Gesellschaft? Welche Strategien verführen bis zum äußersten der Gewaltanwendung? Und welche Beziehung lässt sich aus einem Fokus auf die Mitte und dem Abdriften an den Rand herstellen? Propaganda, Mobilisierung und Radikalisierung bis hin zur Gewalt geschehen heute vermehrt im digitalen Raum sozialer Medien, in welchem gesellschaftliche Konflikte aggressiv ausgetragen werden. 

FORSCHUNGSPROJEKT

»Virtuell und ganz real: Radikalisierung als gesellschaftlicher Prozess«

Hande Abay, Manjana Sold und Julian Junk

Krisenwahrnehmung – Interview mit Julian Junk
Stufen der Radikalität

Politische wie religiöse Radikalisierung sind zu einem Dauerthema für Medien, Politik und Bevölkerung geworden. Soziale Medien haben sich zu einem Ort teils aggressiver Austragung gesellschaftlicher Konflikte entwickelt und werden auch zur Mobilisierung und Propaganda genutzt. Der Projektverbund PANDORA untersucht gewaltförmige Diskurse in sozialen Medien und deren Effekte auf Radikalisierungsprozesse in extrem rechten und in salafistisch-dschihadistischen Milieus. Dabei fokussiert das Projektteam des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung das salafistische Milieu. Ziel der Analyse von Facebook-Accounts und Telegram-Kanälen ist es, Dynamiken von Online-Radikalisierung nachzuzeichnen. Milieustudien von realen Gruppen in Berlin und Braunschweig identifizieren zusätzlich die sozialen und politischen Kontexte, die Radikalisierung begünstigen oder auch verhindern.

Unter Radikalisierung versteht das Team die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die wachsende Bereitschaft, deren institutionelle Strukturen zu bekämpfen. Dass heute Radikalität, d. h. die Absicht, politische Probleme „an der Wurzel zu packen“, primär mit links- und rechtsextremen Positionen, religiösem Fanatismus und Gewalt in Verbindung gebracht wird, sagt viel über die Krisenwahrnehmung unserer Zeit aus: Liberale Gesellschaften sehen ihre Ordnung vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt und reagieren mitunter mit Abschottung. Sowohl im politischen Diskurs als auch in der Forschung dominiert dabei das Modell einer „Radikalisierung in die Gewalt“, also der zunehmenden Zuspitzung einer Einstellung bis zur Gewalttätigkeit. Doch allzu große Konzentration auf Gewaltbereitschaft als Kennzeichen von Radikalisierung verdeckt zweierlei:

Erstens enden viele Radikalisierungsprozesse nicht in Gewalt, verlaufen nicht linear, sie brechen ab. Dass sich die Einstellungen eines Individuums in einer Lebensphase verschärfen können, bedeutet nicht unbedingt, dass es sich hier um eine biografische „Einbahnstraße“ handelt. Vielmehr sind solche Prozesse wichtiger Teil der Entwicklung von Persönlichkeit, in Abgrenzung und in Annäherung an bestimmte Gruppen und Weltanschauungsmodelle. Der Projektverbund PANDORA versteht daher Radikalisierung als Prozess, der auch eine Umkehrbarkeit in Richtung De-Radikalisierung beinhaltet. 

Zweitens ist ein gewisses Maß an Radikalität in pluralen Demokratien notwendig für Innovation und Veränderung. Der Übergang zu einer problematischen Radikalisierung ist nicht immer leicht zu bestimmen. Eine zu starke Fokussierung auf die Gewaltförmigkeit von Radikalisierung kann zur Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen führen und tendiert dazu, sicherheitspolitische Maßnahmen gegenüber umfassender Prävention zu betonen. Das Projekt geht daher von einem weiten Radikalisierungsbegriff aus. Dieser umfasst Phänomene der „Radikalisierung ohne Gewalt“, die Schnittmengen mit dem politischen Aktivismus teilen.

Eine wichtige Erkenntnis aus dem Forschungsprojekt ist, dass virtuelle und realweltliche Umgebungen in Radikalisierungsprozessen stets miteinander verknüpft sind. Soziale Medien bieten häufig ein Umfeld für erste Kontakte mit radikalisierten Ideologien, eine Plattform für wechselseitigen Austausch in – mit zunehmender Radikalisierung meist geschlossenen – Gruppen, in denen Akteure nicht selten unter Decknamen aktiv sind. Für den weiteren Radikalisierungsprozess aber ist meist die Anbindung an realweltliche radikale Milieus, Gruppen oder Schlüsselpersonen ausschlaggebend. Präventionsmaßnahmen müssen diesem komplexen Zusammenspiel zwischen Online- und Offline-Dynamiken gerecht werden und deshalb eine Vielzahl von Maßnahmen umfassen.

Download PDF:
↓ Deutsch ↓ Englisch

GESTALTUNGSPROJEKT

Meme Wars & Grafikdesign

In »Shitposting 1×1«, einer Anleitung für rechte Trolls, wird auf die Kunst, Recht zu haben, verwiesen. Beim Trolling geht es nicht darum, sein Gegenüber zu überzeugen. Entscheidend ist, wer in den Augen des Publikums Recht behält. Die Macht der Bilder, der Memes, spielt hierbei eine große Rolle, wie Donald Trumps durch die Alt-Right befeuerter Wahlsieg zeigt. Deren Memes, wie »Pepe the Frog«, bedienen sich klassisch linker Strategien wie der Ironie, um dadurch maskiert jedoch Reaktionäres auszudrücken. Doch es gibt keinen Grund, Memes aufzugeben. Nur weil der Gegner sich die rein metaphorischen (Design-)Waffen aneignen konnte, heißt das noch nicht, dass er sie richtig benutzt. Es gilt, zurückzuschlagen. Die letzte Regel des Shitpostings lautet: Habe immer das letzte Wort! So dekonstruieren, entlarven und verändern die Meme-Flaggen die rechte Rhetorik, um ihr etwas entgegen zu setzen.

Fabia Kuhlmann

Henriette Kohl