Konzepte der Krise

Obwohl er in der medialen Öffentlichkeit allgegenwärtig scheint, verändert sich der Begriff der Krise beständig. Mit dem jeweiligen Konzept verschieben sich auch die Handlungspotenziale, welche die Argumente der Krise in ihrer Rhetorik freisetzen möchten. Gilt es im politischen Einsatz des Begriffes Entscheidungen zu provozieren, schränken dessen Verwendungen in Bezug auf unsere Ressourcen und die Ökologie des Planeten unsere Handlungen geradezu ein. Zu verstehen, wie eine Krise funktioniert, wie sie sich nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich ausbreitet und schließlich was der Begriff der Krise mit uns macht, wenn wir mit ihm konfrontiert werden, ist die Herausforderung, der sich die Wissenschaft gemeinsam mit der Kunst sowie dem Design in dieser Ausstellung und somit im Licht der Öffentlichkeit stellt. Unterschiedliche Aspekte der Krise werden sowohl von der Wissenschaft, dem Design und der Kunst unterschiedlich beleuchtet werden.

Krisen definieren – Interview mit Peer Illner, Darrel Moellendrof, Frank Bösch, Volker Mosbrugger, Stefan Kroll
Aus Krisen lernen – Interview mit Frank Bösch und Verena Brinks
FORSCHUNGSPROJEKT

»Wie Expert_innen in die Krise kommen«

Oliver Ibert, Verena Brinks, Tjorven Harmsen

Die Räumlichkeit der Krise

Was kennzeichnet eine Krise? Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Krisen? Und wenn ja, kann man daraus Rückschlüsse darüber ziehen, an welchen Stellen im Verlauf einer Krise sich Möglichkeiten ergeben, um diese gut und nachhaltig zu lösen? Krisen enden nicht zwangsläufig in einer Katastrophe, sondern markieren vielmehr einen kritischen Moment und Wendepunkt, in dem man schnelle Entscheidungen treffen muss. Krisen können nicht objektiv festgestellt werden. Erst die Wahrnehmung einer Situation als Krise definiert sie. Krisen sind mit Stress verbunden, da es unter Zeitdruck eine als bedrohlich empfundene Situation zu entschärfen gilt. Erschwerend kommt hinzu, dass kein gesichertes Wissen darüber vorliegt, wie die Krise zu lösen ist. Das bedeutet, dass abseits von Routinen gehandelt werden muss. 

Das Projekt „Resilienter Krisenumgang: Die Rolle von Beratung bei der Schaffung und Nutzung von ‚Gelegenheiten‘ in Krisenverläufen“, durchgeführt am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS), hat zum Ziel, besser zu verstehen, wie Krisensituationen erfolgreich bewältigt werden können. Drei Krisenverläufe werden hierfür miteinander verglichen – eine wirtschaftliche Krise, eine Umweltkrise und eine politische Krise. Ein besonderer Fokus des Projektes liegt dabei auf der Frage, welche Rolle Expertinnen und Experten bei der Krisenbewältigung spielen. Hierzu gehören z. B. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zur Bewältigung einer Situation um Rat gefragt werden. Was müssen sie über Krisen und über ihre eigene Rolle wissen, wenn sie als Beraterinnen und Berater in Krisen tätig sind?  

Raum und Zeit werden dabei als zentrale Faktoren zur Beantwortung der Forschungsfragen betrachtet, die in ihrer Zusammenführung Erkenntnisse für den praktischen Umgang mit Krisen liefern können. Die Bezüge der Krise zum Raum werden besonders deutlich, wo etwa von „Krisenregionen“ die Rede ist oder „Ansteckungsgefahren“ innerhalb und zwischen Branchen oder Industrien thematisiert werden (sog. „Spillover-Effekte“). Auch in Diskussionen um territoriale Zuständigkeiten für das Krisenmanagement tritt die räumliche Dimension hervor. Ziel der Forschung ist es, die Facetten von Räumlichkeit der Krise – als netzwerkförmige, topologische, territorial zugehörige oder skalierbare – auszuleuchten und deren Verbundenheit herauszustellen. Wenn die dramatische Situation überwunden ist, wird die Krise reflektiert und häufig in eine lineare Chronologie eingeordnet. In der Aufarbeitung spricht man dann z. B. von Warnsignalen, die zu spät erkannt oder zu lange ignoriert wurden. Dieser rekonstruierte Krisenverlauf ist zwar relevant, um nach der Krise Veränderungen vorzunehmen. Er lässt aber nur bedingt Rückschlüsse auf die Bewältigung der akuten Krise selbst zu, von der die Akteure überrascht werden. Im Projekt geht es um konkrete Situationen der Krisenbewältigung, etwa die Interaktion in einem Krisenstab. Eines der Ergebnisse ist, dass Krisen ihren Schrecken verlieren, wenn man sie als besondere Handlungskontexte der Entscheidungsfindung begreift. So zeigen gesammelte Interviews, dass Menschen, die beruflich mit vielen Krisensituationen zu tun haben, Krisen nicht unbedingt als furchterregend erleben, sondern als effektive „Bewältigungsstruktur“, die sinnvoll ist, wenn Entscheidungen schnell getroffen werden müssen, um Schlimmeres abzuwenden.

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GESTALTUNGSPROJEKT

Räumlichkeit der Krisen

Während die zeitliche Dimension der Krise bereits in der Wissenschaft untersucht wurde, ist die Räumlichkeit von Krisen bisher kaum explizit Gegenstand sozialwissenschaftlicher Konzeptionierung geworden. Die Arbeit bezieht sich auf diese Perspektive der Forschung und ermöglicht eine besondere Veranschaulichung der Räumlichkeit einer Krise: der Verbreitung des EHEC-Erregers. Die vier Ansichten stellen jeweils verschiedene Weisen dar, wie diese Krise betrachtet werden kann, und vermitteln gleichzeitig deren räumliche Verknüpfung. Die relationale Betrachtungsweise ist dabei immer schon ein erster Schritt hin zur Bewältigung der Krise. Erst in der Multiperspektive werden Zusammenhänge sichtbar, die aus der je vereinzelten Perspektive verborgen bleiben mussten.

Jakob de Boer

von der HAW Hamburg

FORSCHUNGSPROJEKT

»Is there no alternative?«

Frank Bösch, Rüdiger Graf, Irmgard Zündorf

Das Krisenjahr 1979

Tagein, tagaus dieselben Nachrichten, nein, nicht dieselben, nur die gleichen: Kriege, Konflikte, Attentate, ein Öltanker ist in Seenot, ein Flüchtlingsboot tut es ihm nach. Ein Wald brennt ab – doch wo nochmal genau? Und Großbritannien – sind die immer noch an Bord? Ertrinkend und erstickend findet man sich oft inmitten einer Flut von beunruhigenden Nachrichten dieser Welt. Die Frage, ob man mit Abstumpfung oder Aktivierung reagieren darf oder soll, stellt sich jedem mehrfach täglich aufs Neue.

Wie der Historiker Rüdiger Graf erläutert, definierte der klassische Krisenbegriff die Gegenwart als Entscheidungssituation, in der menschliches Handeln gefordert war, um die drohende Katastrophe zum Guten zu wenden. Während dieses Verständnis in den inflationären Krisendiagnosen der 1920er- und 1930er-Jahre dominierte, änderte sich dies in den 1970er-Jahren, als die Fähigkeit zur aktiven Zukunftsgestaltung skeptischer bewertet wurde. Im Angesicht komplexer globaler Energie- und Umweltkrisen verlor der Krisenbegriff seine Bedeutung als Durchgangsstadium auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Ausstieg aus dem technischen Fortschritt schien für einige die einzig denkbare Lösung zu sein.

Beide Extreme – totale Ohnmacht und bedingungsloser Fortschrittsoptimismus – sind natürlich einseitig gedacht. Das Potential einer Krise liegt jedoch darin, aus ihr heraus eine eigene Sprache zu entwickeln, die das Private wie das Öffentliche berührt. Im Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam geht man davon aus, dass erst in Erzählungen die Komplexität von Ereigniszusammenhängen so reduziert und zugespitzt wird, dass sie zur „Krise“ werden können. Um diese zu bewältigen, gilt es Wahrnehmungsverschiebungen zu dekonstruieren und, im Diskurs unter Expert_innen wie in der breiten Öffentlichkeit, Richtungsentscheidungen zu prüfen. Dabei ist einzubeziehen, wie auf frühere ähnliche Krisen reagiert wurde, um bewährte Methoden und neue Wege abzuwägen.

Krisen, so der Historiker Frank Bösch, gibt es nie ohne öffentliche Wahrnehmung einer als fundamental bedrohlich angesehenen gesellschaftlichen Herausforderung, die grundlegende Entscheidungen unter Zeitdruck abverlangt. Wie unterschiedliche globale Krisen interagieren und sich beeinflussten, untersuchte er in einem jüngst publizierten Buch anhand von Krisen im Jahr 1979, deren Zusammenspiel in vielen Teilen der Welt eine „Zeitenwende“ bildete: Die iranische Revolution und die Aufnahme der Boat-People aus Vietnam; die grundlegenden Reformen in China, das sich seitdem zur globalen Handelsmacht entwickelte; die Proklamierung der Alternativlosigkeit neoliberalen Denkens durch Margaret Thatcher im Zuge der Weltwirtschaftskrise, ebenso wie die Verbreitung ökologischer Positionen mit den Grünen, nicht zuletzt in Folge eines Atomkraftunfalls und der zweiten Ölkrise.

Die Spannungen zwischen Kapitalismus und Umweltbewusstsein, Weltbürgertum und regionaler Zu-Hause-Mentalität, Säkularisierung und religiöser Spaltung treten bereits hier deutlich hervor. Nach der Krise der Europäischen Einigung Mitte der 1970er-Jahre erfuhr auch diese zum Ende der 70er-Jahre einen Schub durch die ersten Europawahlen und das Europäische Währungssystem. Insofern zeigt der Blick zurück Handlungsspielräume, die aus Krisen entstehen: Die Ereignisse nicht als Einzelfälle, sondern als Zusammenhang zu begreifen, ist eine Aufgabe, die sich umso mehr in einer kommunikativ so umfassend vernetzten Gesellschaft wie der unseren auch als Chance stellt.

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GESTALTUNGSPROJEKT

Dystopian Reality

Zeitungen sind ein Spiegel der Welt, das aktuelle Zeitgeschehen in gedruckter Form. Aber sie sind ebenso ein Produkt, das auf einem Markt mit Konkurrenz zu kämpfen hat. Und nichts verkauft sich besser als Krisen. »Dystopian Reality«, das jede einzelne Krise gekonnt auf die Schippe nimmt, zeigt welchen Anteil Medien an der Konstruktion und auch der Überspitzung der Krisen unserer hyperkommunikativen Zeit haben. Krisen sind das tägliche Geschäft der Nachrichten. Wenn misshandelte Dinos auf genmanipulierten Mais treffen und schließlich auch noch das Bienensterben thematisch wird, dann ist diese dystopische Zeitung vielleicht tatsächlich ein Spiegel des absurden Zustandes unserer Welt, für den wir mitverantwortlich sind. Wenigstens können wir noch einmal darüber lachen.

Verena Mack

HfG Offenbach