Kann ein Pilz die Welt erklären?

23.01.2019

Pilze verbreiten sich meist unsichtbar als unterirdisches Myzel, doch in der zeitgenössischen Kunst vermehrt auch oberirdisch an der visuellen Oberfläche. Könnte das Motiv des Pilzes in der Kunst vielleicht in besonderer Weise für die Verwobenheit der Arten sensibilisieren? Und welche Rolle spielen dabei Methoden des immer weiter sich verzweigenden Geflechts und der bildhaften Zuspitzung im interdisziplinären Zwischenraum von Wissenschaft und Kunst?

Von Alexander J. Roth, Ellen Wagner

Berlin, Schöneberger Ufer, April 2018: Ein Austernpilz im Keller einer zukunftsweisenden Galerie erhält wichtige Informationen zur Weltliteratur. Ein digitaler Datenstrom überträgt die Inhalte zentraler Werke von Autor_innen wie James Joyce oder Donna Haraway in das organische Material. Wie üppige Hibiskusblüten wachsen die »data infused mushrooms« in Oskar Kolianders »Intelligo« (2017) aus einer Aluminium-Konstruktion silbrig schimmernder Schächte hervor. Ein Teil der Pilze wurde schon geerntet, in praktische Plastikbehälter verpackt und in einen Kühlschrank einsortiert.

Wenige Monate später, Berlin Mitte, Dezember 2018: Feuchtkühler Nebel umhüllt die malvenfarbig gepolsterten Sitzbänke eines Kinoraums. In meditativer Langsamkeit werden Aufnahmen aus der nach dem Niedergang der ansässigen Metallindustrie verlassenen, doch weiter instandgehaltenen Stadt Kitsault in Kanada gezeigt. Im Nebenraum gedeihen ganze Regalbretter voller prächtiger Löwenmähne-Pilze. Als wären sie ein Sortiment vergessener Badeschwämme oder Cheerleader-Pompons, wachsen die Exemplare des leistungssteigernden und gedächtnisfördernden ›Vitalpilzes‹ als Teil der Installation »Deliquescing« (2018) von Steve Bishop ihrem Morgen entgegen, auf dass das Gestern noch lange erinnert werde.

 

Pilze verbreiten sich meist unsichtbar als unterirdisches Myzel, doch in der zeitgenössischen Kunst vermehrt auch oberirdisch an der visuellen Oberfläche. Spekulationen über künftige Agrarzweige und Genmanipulationen, Technologieentwicklungen und Netzwerkgedanken bilden oft den Kontext künstlerischer Pilzarbeiten. Ein Hauch von Theorien des Rhizoms atmet durch die feingliedrigen Lamellen der organischen Exponate, doch echte wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln diese Werke kaum – ihre Qualität ist vielmehr fragmentarische Poesie, die in Stimmung bringt, um über das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft zu reflektieren.

Könnte das Motiv des Pilzes in der Kunst vielleicht in besonderer Weise für die Verwobenheit menschlicher und nicht-menschlicher Arten sensibilisieren? Inwiefern könnte die ›Methode des Myzels‹, des langsam immer weiter sich verzweigenden Geflechts, wie sie etwa Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie zur Beschreibung vernetzter Seinsweisen vorschlägt, der Wissenschaft zu mehr gesellschaftlicher Relevanz verhelfen? Wie könnten die Stränge der Kunst und der Wissenschaft dabei einander unter die Arme greifen? Ein Denken in hybriden Wissensformen zwischen Information und Spekulation, die sich aus der Involvierung ins soziale Leben herausbilden, erscheint so aktuell wie herausfordernd.

Für eine Ethik des radikalen Zusammenwachsens

Von der Entwicklung eines oppositionellen Denkens, das beginnend mit Kunst, Philosophie und Wissenschaft nach und nach die ganze Gesellschaft erfassen soll, spricht etwa Geoffroy Lagasnerie in »Denken in einer schlechten Welt«: »Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbstständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet«, so der Autor, »hat auf die Humanität schon verzichtet.« (S. 19)

Wie  also können Denken und Handeln, Theorie und Praxis zusammenfinden?

Eine besondere Wendung bekam die Analyse dieses Hiatus in der Marxschen und Post-Marxistischen Theorie, die im Speziellen eine Trennung von Wissenschaft und Politik problematisiert. Diese aktualisiert Lagasnerie mit dem Konstatieren »der Ethik einer Enthaltung von Engagement« (S. 20) in Bezug auf die gegenwärtige Geisteslandschaft.

Aufklärung statt Trübung ist das Postulat, mit dem sich Lagasneries publizistisches Projekt identifizieren ließe. Sein Plädoyer für einen Gestaltwandel wissenschaftlicher und intellektueller Systeme zielt auf eine Ethik ab, die Beziehungsgeflechte des Falschen in einer omnikapitalistischen Gesellschaft offenlegt, beleuchtet und umgestaltet: Indem ich meinen Blick auf das Ganze, auf die Totalität der Zusammenhänge richte, verstehe ich problematische Verbindungen, in die ich involviert bin, die zuvor im Verborgenen lagen.

Ganz im Sinne Adornos begibt sich Lagasnerie auf die Suche nach einer Ethik, in der die Kunstschaffenden, Forschenden, Schreibenden, intellektuell Arbeitenden sich nicht mehr vor der Verantwortung des politischen Involviert- und Engagiertseins fürchten und nach geistiger Abgeschiedenheit streben, in der wissenschaftliche, künstlerische und politisch-gesellschaftliche Kritik voneinander isoliert vorkommen. Es ist die Suche nach einer Ethik des gesellschaftlichen Geerdet-seins, einer Ethik des radikalen Zusammenwachsens – einer Ethik des Pilzes?

Eine Frage der Gesprächspartner

Beinahe ironisch ist es, dass Lagasnerie in seiner Fixierung auf das Totale die Eigenheiten des Besonderen zu vergessen droht. Auf recht großzügig abstrakter Ebene postuliert er eine notwendige Parallelität zwischen Kunst und Wissenschaft hinsichtlich ihrer Engagiertheit und bleibt, was konkrete Formen der „Einmischung des Intellektuellen“ betrifft, vage. »Publizieren«, »forschen« und »kulturell tätig sein« werden rasch unter dem Oberbegriff der »Gestaltung des Laufs der Welt« zusammengezogen, ohne näher auf die Spezifika unterschiedlicher Wissensformen einzugehen. Lagasnerie spricht sich für problemorientierte Studien aus, die, gegen das Prinzip der punktuellen Fallstudie, »in Begriffen von Totalitäten denken«. Politisierend wirke hier ein komparatistischer Geist, der Austausch zwischen Disziplinen und mit der außerakademischen Öffentlichkeit. Die Frage nach den Gesprächspartnern steht als zentrales Anliegen am Ende der Ausführungen: Wie bekommt man Aufmerksamkeit bei Leuten, die Einfluss und ähnliche Interessen haben, statt als Wissenschaftler ohne Aussicht auf breitere Rezeption zu publizieren?

 

Es ist Zeit, eine Stichprobe zu nehmen: Anna Lowenhaupt Tsing widmet sich auf knapp vierhundert Seiten »Dem Pilz am Ende der Welt« – dem Matsutake, dessen Geflecht sie entlang vielfältiger ökologischer und ökonomischer Stränge verfolgt. Ihr »flickenhaftes Erzählen« vom Pilzfieber basiert auf Gesprächen mit Wissenschaftlern, Forstleuten und Händlern in den USA, Japan, Kanada, China und Finnland zur Matsutake-Saison. Ihr Gegenstand, der sich in unterschiedliche Orte und Disziplinen verzweigt, ist das prekäre Leben in »störungsbasierten Ökologien, in denen mitunter zahlreiche Arten ohne Harmonie, aber auch ohne Eroberungsversuche zusammenleben« (S. 19, kursiv i. O.).

Tsings Methode lässt sich als eindrückliches »Akteur-Netzwerk« beschreiben: ein langsames Abgehen der über Jahre hinweg gemachten Bekanntschaften, der einzelnen Schicksale in ihrer Verknüpfung mit dem Matsutake-Sammeln, der Zwischenräume des Gesetzes, in denen dieses stattfindet und sich bewusst verortet, der Wachstumszyklen und Preisentwicklungen für den begehrten Speisepilz, der Übersetzungen zwischen unterschiedlichen Ökonomien und Konsequenzen eines zu einseitig gedachten Umweltschutzes.

Es stinkt, betört, ist schwer zu finden?

Man hat es mit einem Buch zu tun, in dem man sich verirren kann: zwischen Rotfichten und Drehkiefern, zwischen vereinzelt gestreuten kapitalismuskritischen Generalaussagen und Metaphern über das Verflochtene der Arten und Seinsweisen. Stellenweise hätte man sich einen etwas leichtfüßigeren Gang durch den Wechsel von Raffung und Ausführlichkeit gewünscht – etwa im Kapitel über das »performative« Freiheitsverständnis der Pilzsammler, die die Zuordnung der Waldgebiete zu jemandes Eigentum in fragiler Schwebe halten. Hier hätte man gern einen strukturierteren Exkurs zur ›Biodiversität‹ von Freiheitsbegriffen gelesen. Dennoch bietet Tsing nicht nur unglaublich viel Information, sondern auch poetische Schilderungen von Sinnesempfindungen und Gedichtzitate.

Vielleicht ist dies ein Punkt, an dem die Linien der literarisch aufbereiteten Wissenschaft und der Kunst einander schneiden: Der Geruch des Pilzes zwischen Duft und Gestank – »nach Kompost«, würde wohl Bruno Latour sagen und damit auf die stetige Zersetzung und Transformation der Elemente eines Ökosystems und (s)einer Geschichte anspielen –, schafft Atmosphären, die nicht immer durchgehend angenehm erfahren werden. Der Pilz, und auch hier hat die Kunst ihren Einsatz, wächst über weite Flächen unsichtbar. Ein Sammler, so betont Tsing, muss daher sensibel werden für die unscheinbaren Anzeichen seiner Präsenz.

Das Spiel mit dem Zusammenhängenden und dem Fragmentarischen, den Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten erscheint zentral für eine Wissenschaftsvermittlung, die nicht nur selbst eingebunden ist, sondern auch ihre Rezipient_innen zu involvieren vermag.

Es stinkt, betört, ist schwer zu finden – eine Ästhetik des Pilzes?

Metaphern des Polyfonen

Spannend wird es bei Tsing immer dann, wenn sich disparate Welten treffen. Wenn sich beispielsweise die divergierenden Muster natürlich-biologischer Gefüge mit der multimelodischen, multirhythmischen Komplexität polyfoner Musik querlesen lassen. Oder wenn das Feld zwischen Ökologie und Politik changiert, wie am Beispiel der Allmenden: Als Form des gemeinschaftlichen Gemeindeguts, das weder Besitz- noch Eigentumsgrenzen kennt, vor allem im Alpenraum ein Konzept mit landwirtschaftlicher wie auch sozialer und rechtlicher Bedeutung, ist sie für Tsing von besonderem Interesse, da sie als Phänomen zugleich abgeschieden, wenig entwickelt und doch komplex hinsichtlich der Kollaborationsgeflechte ist: »Latente Allmenden sind nicht ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Enklaven. Öffnet man die Allmenden anderen Wesen, verschiebt sich alles. Wenn wir Schädlinge und Krankheiten einbeziehen, können wir nicht mehr auf Harmonie hoffen. Der Löwe wird nicht beim Lamm liegen. Organismen fressen sich aber nicht nur einfach gegenseitig auf; sie bilden divergierende Ökologien. Latente Allmenden sind jene wechselseitigen Verflechtungen ohne Antagonismen, die in diesem Spiel der Verwirrungen auftreten.« (S. 342)

 

Die Allmende als revolutionäres Gesellschafskonzept, das aber permanent von parasitären Schädlingen bedroht ist? Ist es wirklich das, was Tsing uns hier zu verstehen gibt? Tatsächlich lässt sich die Passage auch ganz anders lesen: als starkes Plädoyer gegen den Anthropozentrismus im Verweis auf nicht kontrollierbare oder (aus)nutzbare Entwicklungen, die für einzelne Arten unvorhersehbar, auch schädlich sind. Tsing verwirft das radikale Fortschrittsdenken gegenüber dem Modell eines Werdens und Vergehens in der Verflechtung der Arten.

Hier aber wird die Metaphorik in ihrer Vagheit, die das Oszillieren zwischen dem Politischen und dem Biologischen am Schwingen hält, problematisch. Die interdisziplinär ausgeweitete Metaphorik bietet hier nicht nur die Chance, durch poetische Bildhaftigkeit neue Blicke von den Natur- auf die Geistes- und Politikwissenschaften sowie umgekehrt zu gewinnen. Sie liefert potentiell ebenso einen Ansatz, auf dessen Grundlage eine wechselseitige Verdrängung von Arten als „natürliche“ Dynamik erscheinen könnte, die, sobald man sie wiederum auf das Zusammenleben innerhalb der Art des Menschen überträgt, in eine Verharmlosung der vom Menschen selbst verschärften Ursachen und Folgen von Ressourcenknappheit und Durchsetzung der Stärkeren kippen kann.

 

All dies steht so nicht bei Tsing, doch findet sich hier eine Verwendung des Metaphorischen, die interdisziplinäre, häufig an neuen Materialismen orientierte Forschung zwar anschaulich, teils aber auch schwammig werden lässt. Es droht die Gefahr, als Pilzsucher_in einem Biologismus zu erliegen, der sich entweder als veritable rhetorische Pilzvergiftung erweisen kann oder zumindest zeigt, wie eng eine ›Ethik des Pilzes‹, die, wo sie Wurzeln zu entdecken vermeint, mitunter ihre eigenen Triebe begutachtet, in ein »Spiel der Verwirrungen« eingespannt ist, das auch dem Wissenschaftler selbst bisweilen zu entgleiten droht.

 

Die Wissenschaft muss Unterscheidungen einführen, um Parallelen und Zusammenhänge zwischen Wissensgebieten herauszustellen, genauso aber klar zu machen, wo eine Ähnlichkeit der Symptome auf unterschiedlichen Ursachen beruht, wo das eine eben nicht ohne Weiteres dem anderen vergleichbar ist, wo die Andeutung einer Analogie noch lange nicht die homologe Entwicklung des Verschiedenartigen bezeugt.

Die Kunst dagegen kann durch Bildhaftigkeit und Atmosphäre verunklären und provozieren. Insofern liegt vielleicht eine ihrer Herausforderungen darin, das fragmentarisch aus dem wissenschaftlichen Phänomenbereich Herausgegriffene – die künstlerische Fallstudie – wiederum mit einem Hauch beherzter ›Totalität‹ zu umgeben. Dies ist gemeint im Sinne eines Herstellens von Zusammenhängen und Assoziationen, die gerade nicht wissenschaftlich geprüft und erwiesen sind, sondern tatsächlich eine übelriechende Note im Ethischen entfalten können – die durch Verortung im Bereich der Kunst aber stärker noch als die engagierteste, nicht auf Wahrheitsanspruch zielende Wissenschaft den Zweifel und Protest des Publikums herausfordern.

Zurück in Berlin

In Steve Bishops Installation in den KunstWerken hat sich der Nebel noch nicht gelichtet. Feuchtkalte Luft umhüllt die Pilzzucht, unscharf schimmern unter klimaregulierenden Plastikplanen Bilder und Objekte aus der verlassenen Stadt Kitsault hindurch. Dieselben Elemente, die das Wachstum des gedächtnisfördernden Löwenmähne-Pilzes garantieren, fungieren zugleich als Unschärfefilter. Milchig, dunstig werfen sie Fragen nach dem Ineinanderwirken der Pflege von Erinnerungen, Gegenständen, Orten und deren unweigerlichem Verschwimmen auf, das neue Realitäten hervorbringt.

In der Future Gallery wurde die Pilzplantage mittlerweile aus dem Keller geräumt. Neue Arbeiten, die in den Zwischenraum von Technologie und Körperlichkeit springen, halten im Wechsel die Stellung. Der Spagat zwischen dem Fragment und dem Ganzen gelingt den mal forschenden, untersuchenden, dann wieder aushandelnden, ihre Thematik befragenden, beleuchtenden oder gar aktivierenden Werken mal mehr, mal weniger geschmeidig. Auch hier zeigt sich das poetische Feld zwischen Kunst und Wissenschaft noch als Baustelle, auf der mit Effekten und gern auch vielsagenden Begleittexten experimentiert wird.

Die Suche nach Möglichkeiten einer Rückbindung des Menschen an ein ›Ganzes‹ aus Natur und Technik hat gerade erst begonnen. Wie die Kunst ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten durch Auseinandersetzung mit den Gegenstandsbereichen und Methoden der Wissenschaft schärfen und erweitern kann, ohne das Interdisziplinäre als ein phantastisches Reiche des Sowohl-als-auch (oder Weder-Noch?) von Kunst und Wissenschaft zu bereisen, wird sich immer wieder neu beantworten müssen.

 

Erstveröffentlicht in einer längeren Version auf: Lücke. Kunstblog zwischen Flut und Wagnis, 16. Januar 2019.

 

Literatur:

Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt. Aus dem Französischen von Felix Kurz. Berlin: Matthes & Seitz 2018.

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk Höfer. Berlin: Matthes & Seitz 2018.